Im Jahr 1779 eröffnet, zählt das Museum Fridericianum in Kassel (heute Kunsthalle) weltweit zu einem der ersten öffentlichen Museen. Imposante Säulen stützen das breite Portal. Zur Rechten öffnet sich der erste Ausstellungssal: ein langer, sehr hoher weißer Raum mit großen milchigen Sprossenfenstern. Vor einer Wand drängen sich die Schülerinnen und Schüler der Kunst-Leistungskurse der Q1 und Q2 des Marianne-Weber-Gymnasiums. Teils im Gespräch, teils sehr konzentriert, zeichnen, schreiben oder kritzeln sie – auf die Museumswand.
Warum sie nicht hinausgeworfen werden? Nun, es ist documenta. Und die documenta fifteen ist ganz anders als das, was die meisten der 24 Exkursionsteilnehmer*innen sich unter „Kunstausstellung“ vorgestellt hatten.
Alle fünf Jahre findet in Kassel mit der documenta die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst statt: ein absolutes Muss also für die beiden Kunst-Leistungskurse des MWG.
Auf organisatorischer Ebene führten dieses Jahr u.a. ein Mangel an Kommunikation, Transparenz und Vermittlung dazu, dass die documenta fifteen immer wieder von Antisemitismusvorwürfen begleitet wurde. In Vorbereitung auf den Ausstellungsbesuch setzten sich die Exkursionsteilnehmer*innen hiermit auseinander. Dass ein Großteil der 1500 beteiligten Künstler*innen mit dem Skandal, der die Presse dominierte, nichts zu tun hatte und es sich eigentlich um eine „außerordentlich gute documenta“ handelte, bezeugte nicht nur Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank.
Was die documenta XV im positiven Sinne so besonders machte? Da sind vor allem zwei Aspekte zu nennen: Zum Einen hob sich diese Ausstellung dadurch hervor, dass sie zahlreiche Sichtweisen zeigte, die in der doch nach wie vor sehr westlich geprägten Perspektive vieler Kunstschauen wenig Raum haben. Zum Anderen basierte das Konzept der diesjährigen documenta auf dem Gedanken des lumbung. Hiermit werden in Indonesien Reisscheunen auf dem Land bezeichnet, in denen überschüssige Ernte gelagert und mit anderen geteilt wird.
Die daraus resultierenden Handlungsweisen des Teilens und des Übernehmens von Verantwortung füreinander zogen sich als Grundgedanke nicht nur durch die einzelnen künstlerischen Beiträge, sondern auch durch die Gesamtpräsentation (z.B. durch die Unterstützung regionaler Bio-Betriebe in der doumenta-Foodtruck-Meile).
Statt cleaner, kontemplativer weißer Räume (sog. White Cubes), in denen ein Gemälde ordentlich neben dem nächsten hängt, herrschten in einigen Ausstellungsräumen Chaos, Betriebsamkeit und reger Austausch.
Den Schwerpunkt unseres documenta-Besuchs bildete die Erkundung des Fridericianums, das traditionell eines der Herzstücke der Großausstellung darstellt. Für die Dauer des diesjährigen „Museums der 100 Tage“, wie die documenta auch genannt wird, wurden Teile des Fridericianums zur „FridScul“, zum Fridericianum als Schule. Hier loteten Künstlerinnen und Künstler unterschiedliche Konzepte horizontaler Bildung aus. Die Präsentation zeigte sich dabei als immer verändernde Momentaufnahme eines ständigen Prozesses: Hier wurden z.B. Workshops gegeben, verschiedene Projekte entwickelt, diskutiert und präsentiert. Statt ehrfürchtiger, musealer Kontemplation wurde das ehrwürdige Gebäude zum Ort bunten, verwirrenden, inspirierenden Austauschs, und unsere Schüler*innen machten mit – manche etwas verhalten und eher skeptisch, andere ganz selbstverständlich und selbstbewusst.
Nass vom Dauerregen und erschlagen von der unglaublichen Fülle an Eindrücken, schliefen die meisten auf der Rückfahrt im Bus ein. Es war für viele eben eine ganz neue Art der Kunsterfahrung: chaotisch, offen, anstrengend und hoffentlich inspirierend. Und vielleicht nimmt ja der Eine oder die Andere ein bisschen vom lumbung-Gedanken mit in den Alltag: make friends, not art.



