Begreifen, was wirklich passiert ist – Schüler*innen des Marianne-Weber-Gymnasiums besuchen die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Die Stille um einen herum. Nimmt man die Kopfhörer ab, hört man nur das leise Knirschen der Kieselsteine, über die man in die Baracken gelangt, in denen tausende Menschen gefangen gehalten, gequält und ermordet wurden. Zurück unter den Kopfhörern, vernehmen die Schüler*innen die Stimme der Führerin, die leise und nüchtern erzählt. Die Schülergruppe aus Lemgo folgt ihr drei Stunden lang schweigend durch das Stammlager in Auschwitz, anschließend drei weitere Stunden durch Birkenau. Als die Gruppe durch die Räume mit den persönlichen Gegenständen geführt wird, sieht man den 40 Jugendlichen ihre Betroffenheit an. Niemanden lässt der Anblick der Berge von Menschenhaar, Schuhen, Prothesen oder Brillen kalt. Es ist ein erstes Begreifen. Das Erinnern fängt nach dem Begreifen an.

Durch Corona war geschichtliches Lernen an außerschulischen Lernorten zum Erliegen gekommen. Nun kann es endlich wieder stattfinden und eine Gruppe von 40 Schüler*innen des Marianne-Weber-Gymnasiums Lemgo ist zur Gedenkstätte nach Auschwitz gereist. „Wir wollten begreifen, dass es wirklich passiert ist“, so berichten Schüler*innen über ihre Motivation, an der Gedenkfahrt teilzunehmen. „Und selbst aktiv daran beteiligt sein, dass das Wissen um den Holocaust nicht verloren geht.“ Um dieses Ziel zu erreichen hat sich die Gruppe auf vielfältige Weise schon im Vorfeld der Gedenkfahrt mit der Geschichte des Holocausts auseinandergesetzt. Workshops und Besuche in Gedenkstätten hier vor Ort, zum Beispiel auf der Wewelsburg und der Villa ten Hompel Münster, haben die Schüler*innen vor Antritt der Reise sowohl inhaltlich als auch emotional gut vorbereitet.

Ein herausragendes Element sowohl der Vorbereitung als auch während der Fahrt waren die Zeitzeugengespräche. Die Holocaust-Überlebende Eva Weyl berichtete während des Workshops am MWG über ihre Zeit im Konzentrationslager Westerbork und von den Nachwirkungen des Holocausts auf ihre spätere Lebensgeschichte. Sie verliebt sich als Jugendliche in einen Jungen. Doch diese Liebe wurde ihr von der Familie strikt verboten. Denn die Eltern des Jungen waren überzeugte Nationalsozialisten. Und Eva Weyls Familie Juden, die den Holocaust überlebt hatten. In Krakau trafen die Lemgoer Jugendlichen dann Frau Lidia Maksymowicz, eine der letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz. Ihr Bericht über ihre Kindheit im Konzentrationslager und ihre spätere Lebensgeschichte, die Wiedervereinigung mit der totgeglaubten Mutter, über 20 Jahre nach dem Kriegt, sind erschütternd und berührend zugleich. Am realsten wird der Bericht jedoch, als Frau Maksymowicz aufsteht und ihre Bluse hochkrempelt. Und auf dem Unterarm die eintätowierte Häftlingsnummer auch nach fast 80 Jahren noch deutlich erkennbar ist.

 „Meine Hoffnung ist, dass die Teilnehmer*innen erkennen, wohin Diskriminierung führen kann.“ berichtet Magdalena Botterbusch, Lehrerin am MWG, über ihre Motivation, die Fahrt und die AG zu organisieren. „Und wie wichtig es ist, Zivilcourage zu zeigen, nicht teilnahmslos und schweigend zu bleiben, wenn Unrecht geschieht. Den Geist von Auschwitz in den Anfängen erkennen.“ Damit diese kollektive Erinnerung einer Gesellschaft gelingen kann, muss zunächst jeder einzelne vorher lernen, was passiert ist. Denn nur was jeder einzelne vorher gelernt hat, kann er „nie wieder vergessen“. Jede Generation muss aufs Neue lernen, was im Holocaust passiert ist. Jetzt mehr denn je, denn nun gibt es immer weniger Zeitzeugen, die berichten können. Die Schüler*innen des Marianne-Weber-Gymnasiums werden die Geschichten von Eva Weyl und Lidia Maksymowicz weitergeben, und dadurch selbst zu zweiten Zeug*innen, zu Zweitzeug*innen, und sich gegen Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen im Heute einzusetzen.